24.7.17

Mehr als ein Stein Shawne Fielding the Unspunnenstein

Mehr als ein Stein
Ende August findet das Unspunnenfest statt - ohne den
sagenhaften Unspunnenstein. Er gilt als verschollen, aber in
Interlaken ho!t man, dass er wieder auftaucht.
von Stephan Ramming / 22.7.2017
Plötzlich war er wieder da: Die damalige Botschafter-Gattin Shawne Fielding
Borer präsentiert das Original des Unspunnensteins. (Saignelégier, 12. August
2001) (Roger Meier / Keystone)
Wo schützt man etwas Wertvolles? Im Banktresor. Die Lifttüre
schliesst sich. Es geht in den Keller, die Dame vom Interlakener
Geldinstitut erklärt nochmals die Spielregeln: Keine Fotos vom
ganzen Raum, fünf Minuten Zeit, die Dame bleibt anwesend. Die
Lifttür geht auf, eine sprengsto!sichere Betonpforte sichert den
Tresorkeller. Zuhinterst, links unten am Boden, befindet sich das
grösste Schliessfach, drei Schlüsseldrehungen später ist es so
weit: der Unspunnenstein. Grossartig!
Einerseits. Andererseits ist der Steinklotz, der da mit dem
Gewicht von 83,5 Kilogramm schwer und träg im dunklen
Tresorfach liegt, nur die Kopie der Kopie jenes Unspunnen steins,
der gestohlen, zurückgebracht, dann nochmals gestohlen worden
ist und seither verschwunden bleibt. Also ist der Stein im
Schliessfach nur ein Platzhalter für den echten Stein. Ueli Bettler
denkt nach. Er sagt: «Der Unspunnenstein ist ein Symbol für die
Freiheit und die Eigenheit der Schweiz.»
Der pensionierte Lehrer ist OK-Präsident des Unspunnenfestes,
Bettler spricht den Satz auf Hochdeutsch, wie er wahrscheinlich
früher gesprochen hat vor den Schulklassen, wenn es für die
Kinder in Saxeten oder Lauterbrunnen etwas wirklich Wichtiges
ins Heft zu schreiben galt. Wir schreiben mit: «Ein Symbol für
die Freiheit und die Eigenheit der Schweiz.» Das sitzt.
Denn es gehört zum Wesen eines Symbols, dass seine möglichen
Bedeutungen wie im Fall des Unspunnensteins durch einen
Platzhalter aufgerufen werden. Das Symbol besteht ja nicht aus
dem Stück Gneis und Granit, wie es in den Schweizer Bergen
millionenfach her um liegt, sondern aus dem, was sich die
Menschen an Geschichten über den Stein erzählen und dann
wieder zurückprojizieren. Wie auf den Teufelsstein in Göschenen,
den der Beelzebub einst wutentbrannt in die Schöllenenschlucht
hinauftragen und auf den Steg werfen wollte, nachdem er statt
mit einer Menschenseele nur mit einen Geissbock für die Hilfe
beim Brückenbau entlöhnt worden war. Ein altes Weib malte
todesmutig ein Kreuz auf den Stein und verhinderte so die
teuflische Rache.
Den Teufelsstein sieht man heute neben der Autobahn, der von
Unspunnen ist verschwunden. Umso gegenwärtiger ist seine -
Legende. Am 3. Juni 1984 wird er aus dem Touristikmuseum in
Unterseen bei Interlaken von Béliers erstmals entwendet.
Die Jugendorganisation der jurassischen Separatisten will mit der
Aktion ein Zeichen setzen im Kampf für den Übertritt der drei
südlichen Jura- Distrikte. Sie sind nach der Gründung des Kantons
Jura 1979 im Kanton Bern verblieben. Während bei der
Museumskasse die Aufseherin in ein Gespräch verwickelt wird,
werfen vier Béliers den Stein aus dem ersten Stock in den Garten,
transportieren ihn unerkannt ab und deponieren ihn im
Hasenstall des Bélier-Anführers Jean-Marc Baume.
Der beste Steinstösser ist auch verantwortlich für den Stein: Peter Michel am
Eidgenössischen. (26. 8. 2007) (Bild: Urs Flüeler / Keystone)
«Die Béliers wollten einen Nerv der Berner tre!en», sagt Bettler.
Das gelingt. Die Empörung schäumt, hinter den Kulissen der
Politik kommt es zu so eifrigen wie ergebnislosen Verhandlungen
über die Rückgabe. Erst im Juni 1999 taucht er wieder auf mit
einem medialen Knall, ganz nach Bélier-Handschrift: Der Berner
Fotograf Michael von Gra!enried publizierte in der «Schweizer
Illustrierten» Bilder davon, wie er den Stein mit zwölf
eingemeisselten Europasternen und dem Datum der EWRAbstimmung
von 1992 aufhebt.
Die Echtheit des Steins wird angezweifelt, die «Tagesschau»
verhandelt den Fall an drei Tagen in Folge. Am Ende ist klar, dass
es der gestohlene Stein ist. Heute sagt von Gra!enried: «Er ist
nur noch ein Gegenstand dieser typisch schwei zerischen,
biederen Unterhaltung.» Wie er damals den Tipp bekam, dass
sich der Stein in einem Weinkeller im belgischen Charleroi
befand, will er aber auch achtzehn Jahre später nicht erzählen.
Dafür erinnert sich Shawne Fielding noch gut, wie der Stein 2001
den Weg aus dem Kellerloch zurück in die helle Jurasonne fand.
«Wir wollen den Stein zurück,
und ich bin guter Dinge, dass uns
das gelingt.»
Fielding war als Expo-Botschafterin nach Saignelégier zum
Marché-Concours geladen. «Man teilte mir mit, es gebe ein
Bonbon für mich. Man führte mich in einen kleinen Raum, und da
lag er, eingepackt als Geschenk. Mein Gatte flippte aus vor
Freude, es war eine riesige Überraschung», sagt die ehemalige
Miss Texas und damals glamouröse Frau des Schweizer
Botschafters Thomas Borer.
Kurz danach übergibt Fielding den Stein in Inter laken dem
Turnverein. Fortan soll er in einem Hotelfoyer zu besichtigen sein
– bis er kurz vor dem Unspunnenfest 2005 abermals entwendet
wird. Zurück bleibt ein Pflasterstein mit aufgemaltem Jura-
Wappen.
OK-Präsident Bettler hebt den Zeigefinger. «Wir wollen den Stein
zurück, und ich bin guter Dinge, dass uns das gelingt», sagt er.
Im Programmheft steht für den 29.August, den Tag des
Steinstossens: «Kommt der gestoh lene Unspunnenstein
zurück?» Für das Fest gäbe das perfekte Werbung, Bettler lacht:
«Die haben wir sowieso.»
Nach dem zweiten Frevel habe ihn der Polizeikommandant zur
Seite genommen und gefragt, ob nicht er, Bettler, den Stein
behändigt und so geschicktes Legenden-Marketing betrieben
habe. «Wir wissen nicht, wo er ist», sagt Bettler. Und ja,
vielleicht sei er auch zerstört worden, das «Symbol für die
Freiheit und die Eigenheit der Schweiz» zerhackt und zerbröselt,
«schade wäre das».
«Für mich ist der Stein da ein
Sportgerät.»
Peter Michel sieht das nüchterner. «Soll ich ihn einmal
rausnehmen?», fragt er. Der 46-Jährige ist derzeit der beste
Steinstösser, drei Eidgenössische hat er gewonnen und ein
Unspunnenfest, er ist im Turnverein Inter laken verantwortlich
für den Stein. Michel kauert vor dem Tresorfach, ruckelt am
grossen Kiesel und lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass
er ihn mühelos in die Höhe heben würde und mit zwölf Metern
Anlauf hoch über dem Kopf balancierend vier Meter weit
spedieren könnte. «Für mich ist der Stein da ein Sportgerät»,
sagt der 46-Jährige trocken, der historische, der mit den Sternen,
sei «ein Zeitzeuge, ein geschichtliches Objekt».
Michel kann den Stein in Ruhe lassen. Die fünf Minuten im
Tresorraum sind um. Die Kopie der Kopie des legendären Steins
verschwindet wieder hinter der Tür des Schliessfachs. Legenden
kann man nicht anfassen.
Lange Tradition
1805
Das erste Alphirtfest auf der Unspunnenmatte bei Interlaken
findet statt. Die Idee dazu hatten Berner Patrizier, um sich nach
den Wirren während der Helvetik mit der Landschaft zu
versöhnen. Es wird ein Stein von 92 Kilogramm gestossen.
1808
Zweites Alphirtfest mit neuem Stein von 83,5 Kilogramm. Der
Stein wird danach an einem unbekannten Ort aufbewahrt.
1905
Drittes Alphirtfest mit dem Originalstein von 1808.
1946
Viertes Fest mit dem Originalstein. 1981 wird er letztmals am Fest
gestossen.
1984
Jurassische Béliers stehlen am 3. Juni den Stein von 1808 aus dem
Touristikmuseum in Unterseen bei Interlaken. 1999
1999
Der Fotograf Michael von Gra!enried verö!entlicht im Sommer
Bilder des gestohlenen Steins. Seit dem Raub war mit einer Kopie
gestossen worden. Der Stein befand sich in einem Keller in der
Nähe von Brüssel.
2001
Am 11. August wird in Saignelégier von der damaligen
Botschaftergattin Shawne Fielding-Borer der Stein als Bonbon
verpackt zurückgegeben. Von den Béliers wurden 12 Sterne und
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am Sonntag ist nicht gestattet.
das Datum der EWR-Abstimmung, der 6.12. 1992, in den Stein
eingemeisselt.
2005
Am 20. August wird der Original-Stein aus dem Hotel Victoria
Jungfrau gestohlen, wo er ausgestellt war. Die Diebe lassen einen
Pflasterstein mit einem Jura-Wappen zurück. Seither ist der Stein
verschwunden. Gestossen wird mit dem neuen Stein, der in einer
Bank in Interlaken verwahrt wird.
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